… und wenn das nicht die Wahrheit ist …

„… und wenn das nicht die Wahrheit ist …“, Artionale 2004, Andreaskirche, München2-Kanal-Videoinstallation, Loop, DV, Ton: Michael Armann, Foto: Daniel Mayer

2-Kanal-Videoinstallation ... und wenn das nicht die Wahrheit ist ..., 2004, 2 übergroße Mündersind nebeneinader zu sehen
Lippenbekenntnis

Unter dem Titel „animus versus ratio“ veröffentlichte Doris Maximiliane Würgert Anfang der neunziger Jahre ein Künstlerbuch. In der Gegenüberstellung von mathematischen Gleichungen und Gesichtern aus Velázquez „Las Meninas“ setzte sie sich damals mit dem Verhältnis von Gefühl und Verstand auseinander. In ihrer jüngsten Videoinstallation thematisiert sie, wiederum mit dem Fokus auf das menschliche Gesicht, die Beziehung zwischen Körper und Vernunft, Sprechen und Sprache, Sinn und Unsinn. Zieht man den Installationskontext, einen protestantischer Kirchenraum, in Betracht, kann „… und wenn das nicht die Wahrheit ist …“ auch als künstlerischer Kommentar zu Kirche und Religion verstanden werden.

Die Installation besteht aus zwei nebeneinander an die Wand gebeamten Videoprojektionen: Sprechende, aber stumme Münder. Junge und alte, weibliche und männliche Lippenpaare artikulieren Worte, deren Bedeutung auch nicht von der über Kopfhörer wahrnehmbaren Tonmontage Michael Armanns enthüllt wird. Die Folge ist: Das Sprechen zeigt sich als körperlicher Akt; das Gesprochene – das Lügengedicht „Dunkel war’s der Mond schien helle“ – bleibt verborgen. Und selbst dann, wenn das Gesagte hörbar wäre, entpuppte sich sein Sinn als Unsinn – offensichtlich muss, was verbal verstanden wird, nicht verständlich, sprich: vernünftig sein.

Als Installationsort wählt Würgert die Wand im Rücken der Gemeinde, so dass sich der predigende Pfarrer gleichsam in den Doppel-Mündern spiegelt. Darin besteht die kontextspezifische Herausforderung, mehr noch: Der Sinn des gesprochenen Wortes verbirgt sich an einem Ort, an dem gewöhnlich das Wort ins Zentrum gerückt wird. Der Protestantismus mit seiner spröden Abkehr vom sinnlichen Zauber insistierte gegenüber dem lateinischen Wortgeklingel des Katholizismus auf allgemeiner Verständlichkeit. Logozentristisch stellt das Christentum die Sprache als Ort der Vernunft über den Körper. Im biblischen Schöpfungsmythos – „Und Gott sprach es werde, und es ward.“ – „erspricht“ Gott die Welt. Die Geburt Christi schildert Johannes als Inkarnation des Wortes: „Und das Wort ward Fleisch.”

In Würgerts Mündern wird das Wort „Fleisch“, ohne seinen Sinn preiszugeben. Die Lippenbewegungen verweisen allenfalls, sobald sie als Sprechen identifiziert werden, auf die Bedeutungsebene der Sprache. An ihre Stelle tritt hier der vergängliche Körper, der sprechende Mund, der Mund, der nicht nur Artikulationsort ist, sondern auch überlebensnotwendiges Organ der Nahrungsaufnahme, der Mund mit seinen Lippen, abstoßend vulgär und anziehend erotisch, jung und alt, zart und faltig. Das vergängliche Sprechen, und mit ihm die individuellen Körper der Sprecher, dominiert über dem transindividuellen, platonisch betrachtet, überzeitlichen Sinn des Gesprochenen. Die Sprache verschwindet hinter dem Sprechenden. Die Bedeutung wird imaginär. Was bleibt, ist die Würde des sprechenden Mundes im Angesicht der Zeit.

Heinz Schütz